Wie du mit Erwartungen umgehst – 2 Schritte für mehr Freiheit und Selbstbestimmung

Eine Kundin von mir ist unglücklich in ihrem Job.

Sie geht nicht gerne zur Arbeit und kommt völlig erschöpft nach Hause. Ihr Arbeitsalltag besteht aus Ärger, langweiligen Aufgaben, schlecht gelaunten Kunden, einem unsicheren Markt.

Und erst der Chef!

Das ist nämlich ihr Vater.

Das Unternehmen ein Familienbetrieb. Mit Tradition.

Sie ist diejenige von ihren Geschwistern, die als einzige seit Jahren darin arbeitet. Sie hat das Know-how. Hat ihre Ausbildung danach gewählt, dass sie zu ihren Aufgaben passt. Hat sich ihre Position im Unternehmen erarbeitet. Kennt die Strukturen, die Zahlen, die Mitarbeiter.

Für alle ist klar: Sie übernimmt das Unternehmen in einigen Jahren.

Für sie ist klar: Das wäre ihr persönlicher Alptraum.

Gesagt hat sie das noch niemandem.

Was ist das Problem?

Sie denkt, sie muss den Erwartungen entsprechen.

Den ihres Vaters, der sie seit Jahren systematisch aufbaut. Den ihrer Geschwister, dass die Firma weiter in der Familie bleibt. Den ihrer Mitarbeiter, die einen sicheren Arbeitsplatz behalten wollen.

Auch den eigenen Erwartungen: Eine „gute Tochter“ zu sein. Verantwortung zu übernehmen.

Im Coaching haben wir uns dann damit beschäftigt, diese unterschiedlichen Erwartungen voneinander zu differenzieren.

Dazu haben wir dieses Tool benutzt, das Erwartungsquadrat (Beispiele beziehen sich NICHT auf das geschilderte Coaching!)

160516_Tool Erwartungsquadrat(Exkurs: Wie war das nochmal mit den Erwartungen?

Erwartungen sind Vorstellungen davon, wie etwas zu sein hat. Vermeintliche Selbstverständlichkeiten, wie sich jemand zu verhalten hat, wie etwas abläuft – und ein echter Schatz, wenn es darum geht, dich frei zu machen von „sollte“ und „müsste“-Gedanken.

Erwartungen lassen sich wiederum aufsplitten in

  • implizite (nicht direkt ausgesprochene Erwartung) und
  • explizite Erwartungen (direkt ausgesprochen und an die Person adressiert, an sich meine Erwartung richtet)

sowie in den

  • bewussten und
  • unbewussten Versuch, ihnen zu entsprechen

Wie gehe ich mit Erwartungen um?

Schritt 1: Mach dir die Erwartungen bewusst  & nimm einen Realitätscheck vor

Das Sichtbarmachen der unterschiedlichen Erwartungen ermöglicht überhaupt erst die Auseinandersetzung damit. Das kannst du bspw. mit dem oben genannten Tool machen (das du hier als Arbeitsblatt findest).

Prüfe dann, ob deine Annahmen über die Erwartungen der Realität entsprechen: Erwartet die Person das tatsächlich? Eventuell klärt sich hier nämlich schon einiges.

Schritt 2: Triff deine bewusste Entscheidung

Nachdem du dir über die unterschiedlichsten Erwartungen klar geworden bist, kannst du dir diese Frage stellen:

Will ich den Erwartungen entsprechen?

  • Wenn ja: KANN ich den Erwartungen entsprechen? (Sind die Erwartungen realistisch? Entsprechen Sie meinen Fähigkeiten und Vorlieben?)
  • Wenn nein: Wie gehe ich damit um, wenn ich den Erwartungen nicht entspreche? (Was sind die Konsequenzen, wenn ich mich nicht den Erwartungen entsprechend verhalte? Wie gehe ich mit Druck, Enttäuschung usw. um?)
  • Kommt auch immer wieder mal vor: „Weiß ich nicht“ – du bist dir noch nicht klar? Dann notiere dir diese Erwartungen und leg sie erstmal beiseite. Beschäftige dich mit den anderen zuerst

! Dieses Auswählen von Erwartungen ist ein wichtiger Teil, denn typischerweise tun wir das nicht. Wir übernehmen Erwartungen, ohne sie für uns zu prüfen. Wir reagieren fremdbestimmt, lassen uns steuern, ohne zu fragen, ob dieser Weg uns überhaupt entspricht. !

Und: „Häh? Den Erwartungen entsprechen? Aber geht es nicht darum, mich davon frei zu machen?“

Ja und Nein 🙂 Zum einen sind es auch deine eigenen Erwartungen an dich. Zum anderen: Erwartungen sind nicht nur schlecht. Sie haben auch wichtige Funktionen:

1. Sie zeigen, dass du (oder derjenige, der etwas erwartet) in der Lage bist, sich etwas vorzustellen, zu antizipieren, zu wünschen

2. Sie zeigen, dass du (oder derjenige, an den die Erwartungen gestellt sind) in der Lage bist, empathisch zu sein, zu spüren, was andere denken und gerne hätten

3. Sie geben Orientierung und Sicherheit, indem sie als Leitlinie für das erwünschte Verhalten fungieren. Damit erleichtern sie auch bestimmte Dinge, wir müssen bspw. nicht alles abklären und bedenken (da für alle klar war, dass meine Kundin das Unternehmen übernimmt, konnte sie bereits früh auf diese Aufgabe vorbereitet werden. Damit war die Unternehmensnachfolge gesichert, ebenso die Frage, nach der beruflichen Zukunft meiner Kundin)

4. Sie verdeutlichen Normen, Werte und Regeln: Damit sind sie auch eine übergeordnete Leitlinie, die uns gesellschaftlich zusammenhält (ich erwarte bspw. von den meisten Fußgängern, mir nicht einfach vors Auto zu laufen …)

Zurück zu Schritt 2: Wenn du dich entscheidest, den Erwartungen zu entsprechen, kannst du noch eine Ebene tiefer gehen:

Frage dich nach deinem Beweggrund, die Erwartung zu erfüllen!

1. Tust du, was du und andere von dir erwarten, weil du Angst um die Verbindung/ Beziehung / deine Position im Job usw. hast?

2. Tust du, was du und andere von dir erwarten, weil du dieses Verhalten als für dich stimmig und zu dir passend empfindest?

Wenn Punkt 2 zutrifft: Weitermachen! 🙂

Wenn Punkt 1 zutrifft, dann schau dir nochmal genau an, welche Konsequenzen es hat, wenn du dich so verhältst:

  • Wie viel kostet es dich an Selbstbestimmung, Freiheit, Authentizität und Lebensqualität?
  • Welche Möglichkeiten hast du noch, der oben genannten Verlustangst zu begegnen und dir die dahinter liegenden Bedürfnisse nach Verbindung / Sicherheit im Job usw. zu erfüllen?
  • Du weißt nicht weiter? Dann schreib mir doch einfach! Was bewegt dich gerade, wo hakt es?

Immer noch Schritt 2: Du hast dich entschieden, die Erwartungen NICHT zu erfüllen? Dann …

  • Frage dich nach deinem Beweggrund, den Erwartungen NICHT zu entsprechen!
    Ähnlich wie hier beschrieben, geht es darum, deine bewusste Entscheidung von Rebellion zu unterscheiden. Wenn du dich „trotzig“ gegensätzlich verhältst, um „es jemanden mal so richtig zu zeigen“, dann bist du immer noch fremdbestimmt – du richtest dein Verhalten nach den Erwartungen aus, machst halt nur das Gegenteil.
  • Frage dich, welche Konsequenzen dein Verhalten wahrscheinlich haben wird (hihi: was erwartest du, wird passieren?):
    Was wäre anders? Wie wird es sich für dich anfühlen? Welche Bedürfnisse und Werte erfüllst du dir damit (bspw. Selbstbestimmung, Autonomie, Entwicklung)?
    Wenn du negative Folgen befürchtest: Wie willst du damit umgehen? Siehe hierzu auch den obigen Absatz zu Konsequenzen bei Schritt 2, Punkt 1.
  • Frage dich, wie du das kommunizieren willst:
    Mit wem wirst du deine Entscheidung besprechen? Wen betrifft sie und willst du darüber mit ihm sprechen?
    Such dir jemanden, der dich unterstützt und sprich mit denen, deren Erwartungen du nicht erfüllen willst. Verdeutliche, dass du dich zwar anders entscheidest, du trotzdem noch in gutem Kontakt zu ihnen sein möchtest (falls das auf dich zutrifft).

Puh, durchschnaufen!

Alles schön und gut? Aber das passt alles nicht zu dir, denn du hast Erwartungen an andere?

Und die tun einfach nicht, was du willst?

Dann lies hier:

Von der eigenen Erwartung ins Tun kommen

Wenn du willst, dass andere deinen Erwartungen entsprechen, mach dir klar: Du selbst bist diejenige, die dafür sorgen kann, dass deine Vorstellungen, Bedürfnisse und Wünsche erfüllt werden.

Übernimm die Verantwortung für dich, statt passiv (und abhängig) darauf zu warten, dass dein Gegenüber handelt.

Wenn du wütend und frustriert bist, weil Person XY sich schon wieder nicht so verhält, wie du es erwartest, dann frage dich,

  • was DU eigentlich willst und

  • wie DU selbst dafür sorgen kannst, das zu bekommen.

So, jetzt bist du wieder dran!

Schreib mir in die Kommentare:

Was fällt dir noch zum Thema ein? Wie gehst du mit Erwartungen um? Und was sind deine Herausforderungen dabei?

Ich freu mich drauf!
P.S. Hab nicht zu hohe Erwartungen, wenn du jetzt anders an das Thema rangehst! Gib dir Zeit, dein neues Verhalten zu üben und anzupassen. Und auch dein Umfeld wird sich an deine neue (und unbequeme) Haltung gewöhnen müssen (was du durchaus auch genießen kannst J).

P.P.S: Und meine Kundin? Die hat sich entschieden, mit ihrer Familie zu sprechen. Und sich ihrer Wahlmöglichkeiten bewusst zu werden: Sie KANN das Familienunternehmen weiter führen UND sie kann sich auch einen anderen Job suchen. D.h. sie schaut jetzt, welchen Spielraum sie innerhalb ihrer Firma hat und ob das ausreicht, die Arbeit für sie passend zu machen. Und falls dann noch Bedürfnisse, Wünsche und Vorstellungen offen sind, wie sie sich diese erfüllen kann.

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Wer schreibt hier?

Wiebke Rimasch. Coacht, macht und tut – alles für Ihr Lieblingsthema: Gute Arbeit. Weil sie selber weiß, wie es ist, wenn man im falschen Job steckt, – und wie man das ändern kann!  mehr …

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