Grenzen setzen – drei Irrtümer und eine schrittweise Anleitung, wie du besser für dich einstehen kannst.
Er hört nicht auf mich! Er hört einfach nicht auf, zu reden!
Ich sage, dass ich dieses Gespräch so nicht führen will. Doch er ignoriert das, redet weiter. Er will Antworten von mir, schnell, um dann jede meiner Aussagen sofort als „Unsinn“ niederzumachen.
Es geht hier um nichts. Es geht hier nur ums Recht haben.
Das hier ist kein Gespräch, keine Diskussion. Es ist ein Monolog.
Das kenne ich schon: Ich bin nur eine Statistin. Ich fange an, den Redeschwall über mich ergehen zu lassen. Höre nicht mehr zu. Das kenne ich auch schon – ich kapituliere, bin nur noch körperlich anwesend.
Aber plötzlich sehe ich mich da sitzen – die Schultern nach vorne eingerollt, den Kopf leicht gesenkt. Ich merke, dass ich in ein sehr altes Reaktionsmuster zurückfalle „einfach nichts sagen, aushalten. Abschalten, bis es vorbei ist“, gleichzeitig pocht meine Halsschlagader wie wild. „Ich bin so wütend auf diesen Typ, dass er denkt, er könne mich so behandeln!“ Ich frage mich, ob ich ihn nicht doch angreifen sollte. Ich merke, dass damit ein anderes altes Muster anspringt: „Kämpfen! Ihn fertig machen, ihn bestrafen, ihn irgendwie verletzen!“
Ich bin passiv, und gleichzeitig wahnsinnig wütend. Und hilflos.
Ich erkenne, dass beide Verhaltensweisen – Flucht oder Kampf – zwei Seiten der gleichen Medaille sind: In beiden Fällen treffe ich keine unabhängige Entscheidung, sondern reagiere nur auf mein Gegenüber, verstricke mich tiefer in die Situation.
So wie immer. Schon 1000mal habe ich dieses Gespräch mit dieser Person geführt. Und 1000mal habe ich entweder ausgehalten oder angegriffen. Und nie, nie ist es irgendwie danach besser gewesen. Ich war dann immer noch wütend, traurig und irgendwann ging das ganze Spiel von vorne los.
In diesem Moment wird mir bewusst, dass ich hier nicht mitmachen muss. Dass ich die Regeln, den Ablauf, das Spiel ändern kann.
Ich steige aus.
Ich werde jetzt Grenzen setzen!
„STOPP!“
Meine Stimme ist laut und deutlich, ich schlage mit der flachen Hand auf den Tisch
„Ich habe Nein gesagt! Ich werde dieses Gespräch nicht auf diese Art mit dir führen“
Mein Gesprächspartner sieht mich überrascht an.
Und ist still. Endlich.
Wir stehen beide etwas verdattert um den Tisch. Er murmelt etwas, dann gehen wir beide getrennt voneinander weg.
Wir treffen uns schon bald wieder. Dazu später mehr.
Vorher zu dir:
Kennst du das, wenn jemand scheinbar über alle deine Grenzen geht? Ob schwierige Kunden, ätzende Chefs und fiese Kollegen – Menschen, denen es egal zu sein scheint, wie es dir geht?
Und du?
Du denkst, dass du das irgendwie aushalten muss? Dass du nicht „Nein“ sagen DARFST, dass du „nett“ oder „höflich“ bleiben musst?
Wenn das ein Teil deines Arbeitsalltags ist, fragst du dich vielleicht, was dir beim Grenzen setzen helfen kann.
Gleichzeitig hast du Angst davor, so reagieren zu müssen, wie ich es beschreibe? Mit Brüllen? Mit auf den Tisch schlagen?
Dann willkommen bei Irrtum Nr. 1: Grenzen setzen können nur Menschen, denen es leicht fällt, laut zu sein, sich durchzusetzen und die irgendwie „ein harter Hund“ sind
Es gibt mehrere Strategien, die dir das Grenzen setzen und „Nein sagen“ vereinfachen! Die Strategie aus meinem obigen Beispiel ist eine der „letzten Hilfen“. Quasi eine Art Notruf, wenn nichts mehr zu greifen scheint.
Merke: Wenn du nur noch brüllen kannst, hast du deine Grenzen schon längst überschritten!
Ich glaube, dass sich abgrenzen generell deswegen so ein schwieriges Thema ist, weil wir es häufig viel zu spät machen. Weil du erst dann „Stop“ sagst, wenn du schon längst im roten Bereich bist.
„Du Vollidiot!“ Wenn Grenzen zu spät kenntlich gemacht werden
Groll, Verachtung, tiefsitzender Frust, Wut, bei der du fast weinen musst – Emotionen, die dich scheinbar überrollen.
Diese übermächtigen Emotionen haben sich aufaddiert – sie setzen sich aus vielen kleinen und großen Situationen zusammen „als sie mich im Meeting vor allen anderen abgekanzelt hat“, „wie sie mir meine Arbeit von 2 Wochen mit einem Strich zunichte gemacht hat“, „der Tag, an dem sie mich extra nicht mit in den Termin genommen hat“
Dabei rührt die Wut nicht nur aus dem Verhalten der anderen Person – du bist auch wütend auf dich selbst, dass du dich so lange nicht ernst genommen hast, dich nicht für dich und deine Grenzen eingesetzt hast!
Und weil du nie gesagt hast, wenn dich etwas stört, wiederholen sich Situationen. Woher auch, wenn dein Gegenüber gar nicht weiß, wie es dir wirklich geht?
Wie in meinem eigenen Beispiel, durchleben wir so oft die immer gleichen „Grenzverletzungen“. So staut sich dann alles in dir zusammen. Bis du nicht mehr kannst und quasi explodierst.
Showdown! Tag der Abrechnung!
Dann holst du aus zur generellen Abrechnung: Du willst deinem Gegenüber ALLE bisherigen negativen Erfahrungen, die du mit ihr/ihm gemacht hast, um die Ohren hauen!
Sie/ er soll leiden, für das, was sie/er getan hat!
Du vermischst die Situationen, es hagelt Vorwürfe und Beschuldigungen.
Genau dieses Durcheinander aber macht es sehr schwer, eine echte Lösung zu finden.
Grenzen setzen, bedeutet, konkret zu sein.
Nicht darauf hoffen, dass der andere schon „errät“, was du eigentlich willst. Sondern aktiv für dich zu sorgen.
Klar zu sagen, um welches Verhalten in welcher Situation es geht. Was dir nicht passt. Nur so bekommt dein Gegenüber überhaupt die Chance, tatsächlich etwas zu ändern.
Und: nur so wird er bereit sein, dir auch zuzuhören.
Denn pauschale Aussagen wie „du bist total rücksichtlos!“ lassen ihn entweder in die Defensive oder in den Angriff übergehen. Und was genau du damit eigentlich meinst, was du als „rücksichtloses Verhalten“ interpretierst, weiß er immer noch nicht …
Daher kommt hier deine erste Aufgabe:
- Definiere die konkrete Situation, um die es dir geht! Was genau ist passiert? Wer hat was gesagt, getan oder nicht getan?
- Schildere deine Beobachtung, OHNE Interpretation, ohne Bewertung (nicht: „du hast voll genervt geguckt“, sondern: „du hast mit den Augen gerollt“)
Weiter geht’s mit Irrtum Nr. 2: Grenzen setzen und Schwäche zeigen schließt sich aus!
Es gibt da diese generelle Annahme: Das es irgendwie schlecht ist, wenn man aufgeregt, nervös ist oder sogar weint. „Man kann doch nicht im Job heulen!?“
Was allgemeinhin als „Schwäche“ tituliert wird, ist eigentlich nur eine Sensibilität, Berührbarkeit. Ein ehrlicher Ausdruck, dass dich etwas berührt, dir etwas wichtig ist. Ein Anzeichen, dass du nicht total dicht machst, sondern ein Mensch bist. 🙂
Bitte bewahre dir diese Fähigkeit! Du brauchst sie. Die (Arbeits-)Welt braucht sie.
Es geht bei Gefühlen nicht darum, diese wegzuschieben, sondern den Umgang damit zu lernen/zu verfeinern. Gefühle sind es, die dich überhaupt auf deine Grenzen hinweisen!
Und natürlich gibt es einen Unterschied zwischen einem Weinkrampf und einfachen Tränen. Den Weinkrampf kriegen nicht die, die sich Tränen erlauben. Ein Weinkrampf passiert dann, wenn du lange, lange deine Tränen, deine Gefühle zurück drängst. Bis du nicht mehr kannst.
Deine Aufgabe:
- Finde heraus, welche Gefühle mit der konkreten Situation verbunden sind. Nimm dazu die Emotionen, die wirklich mit DIR zu tun haben (also Wut, Ärger, Traurigkeit, Frustration). Lass alles weg, was auf einer Interpretation des Verhaltens deines Gegenübers zurückgeht (also nicht solche „Gefühle“ wie „manipuliert“, „veräppelt“, nicht „ernst genommen“ – all das lenkt den Fokus nur auf deinen Konfliktpartner. Es geht hier aber um dich!)
Irrtum Nr. 3: Grenzen setzen bedeutet, jemand anderen zu begrenzen
Oft begegnet mir der Glaube, dass es darum geht, jemand anderem „seine Grenzen aufzuzeigen“ oder ihn „in seine Schranken“ zu verweisen.
Das ist ein folgenschwerer Irrtum. Und noch ein Grund, warum wir uns mit dem Thema Grenzen setzen so unwohl fühlen: Bedeutet es doch, gegenüber jemand anderem restriktiv aufzutreten.
Es geht NIE darum, die Grenzen deines Gegenübers zu definieren.
Es geht um DEINE Grenzen. Es geht darum, dass du kenntlich machst, wenn du merkst, dass etwas für DICH nicht ok ist. Es sind deine Werte, Bedürfnisse, Interessen, für die du eintreten willst!
Tatsächlich wird dieser Punkt aber meist vollkommen übersehen. Stattdessen versuchen wir sofort, Dem Gegenüber klar zu machen, was er falsch macht.
„Das geht doch nicht! Das macht man doch nicht!“
Das Problem ist: Dein Wertesystem ist einzigartig. Was für dich gilt, muss überhaupt nicht für andere gelten. Wenn dir jemand sagt „deine Idee ist nicht so doll“, dann kann das sein, dass du richtig wütend wirst, weil es dir vollkommen an Wertschätzung, Augenhöhe und Respekt fehlt. Während dein Gegenüber denkt, dass er dir einfach eine Rückmeldung gegeben hat.
Es macht das Grenzen setzen leichter, wenn ich weiß, dass es um MICH geht – für beide Seiten!
Deine Aufgabe:
- Finde heraus, um welche DEINER Bedürfnisse, Werte und Interessen es in der konkreten Situation geht. Nutze dazu deine Gefühle, je intensiver diese mit einem bestimmten Bedürfnis verbunden sind, desto wichtiger ist dieses im Moment.
Bonus-Irrtum: Blind vor Wut oder blinde Flecken?
Okay, also es geht um deine Grenzen, deine Bedürfnisse. Es geht um dich.
Und es kann noch einen Grund geben, warum dich ein bestimmtes Verhalten so dermaßen an deine Grenzen bringt. Dieser Effekt wird häufig buchstäblich übersehen:
Blinde Flecken und wunde Punkte.
Das sind bspw. alte Erfahrungen, Glaubenssätze, Ängste etc. Ich habe darüber in meinem letzten Newsletter geschrieben:
Manchmal ist dein Gegenüber wie ein Spiegel, in dem du genau die Seiten erkennst, die du selbst an dir ablehnst. Das was du verdrängst, erkennst du in deinem Gegenüber – und bekämpfst es dort. Nehmen wir mal an, du hast früh den Satz „Sei still und bescheiden, dann mag dich jeder leiden“ übernommen.
Und dann kommt deine neue Chefin und ist durchsetzungsstark. Oder in deinen Worten „rechthaberisch und arrogant“. Du findest ihr Verhalten unmöglich und denkst schnell, dass sie dich einschränkt und herum kommandiert. Kurzum: dass sie deine Grenzen missachtet.
Was du nicht merkst, ist dass du äußerst sensibel auf Menschen reagierst, die eben nicht lange nachdenken, bevor sie ihre Meinung sagen. Ja, je mehr dich ein bestimmtes Verhalten „auf die Palme“ bringt, dich schnell wütend oder fassungslos macht, desto sicherer steckt dahinter dein eigener blinder Fleck. Eine Seite, die du dir nicht erlaubst, selbst auszuleben.
Deine Aufgabe:
- Wer ist in deinem beruflichen (oder auch privaten) Umfeld „ein rotes Tuch“ für dich? Wen kannst du auf den Tod nicht ab?
- Und welches Verhalten macht dich so wütend? Was genau macht die Person?
- Frage dich dann, welche Qualität hinter diesem Verhalten steckt. Und dann frage dich, inwieweit du selbst dir erlaubst, diese Qualität zum Ausdruck zu bringen.
Meine Grenzen, deine Grenzen – ist doch alles klar?
Jetzt geht es an Eingemachte: Beginne damit, deine Grenzen sichtbar zu machen! Denn:
„Wie kann mein Chef sowas zu mir vor allen anderen im Meeting sagen? Das macht man doch nicht!“
Ich weiß, wir alle tun so, als wäre der gemeinsame Umgang irgendwie miteinander geregelt, als wäre klar, wie „man“ sich zu verhalten hat.
Tatsache ist aber, dass es äußerst selten wirklich mal ausgesprochen wird, welchen Umgang sich alle Beteiligten miteinander wünschen. Stattdessen schlucken wir runter, bis es nicht mehr geht.
Bis wir explodieren oder komplett aufgeben: Uns selbst. Den Kontakt zum anderen.
So ist übrigens auch meine Geschichte geendet: Wir hatten eine zweite Runde, in der wir uns durchaus nochmal weiter gestritten haben, in der es nochmal nötig war, dass ich „Stopp“ gesagt habe. Aber wir haben uns nicht aufgegeben. Und im dritten Gespräch schließlich konnten wir darüber sprechen, wie es uns ging, worum es uns ging.
Das war das erste Mal seit Jahren.
Eine andere Form der Kommunikation ist also möglich. Dafür kannst du beitragen.
Daher deine Aufgabe:
- Nimm die konkrete Situation,
- lass dich von den damit verbundenen Gefühlen zu
- deinen Bedürfnissen führen
- sprich mit anderen darüber: Mit der Person, deren Verhalten das ausgelöst hat oder mit anderen Menschen, die dich unterstützen können.
- Bitte mach dir klar: Du bist weder der Situation, noch deinen Vorgesetzten oder sonstigen Menschen ausgeliefert. Auch nicht, wenn du in hierarchischen Systemen arbeitest. Wenn du das denkst, dann arbeite auch an deiner Haltung.
Und beginne langsam, deine Grenzen zu definieren. Fang nicht mit dem Boss(-Gegner) an, sondern suche dir gezielt kleine Übungssituationen. Wichtig ist es erstmal, gute Erfahrungen zu machen.
Stärke erst die Wahrnehmung deiner eigenen Grenzen und schließlich deine Kompetenz, diese zu effektiv zu kommunizieren.
Ich wünsche dir dabei viel Erfolg 🙂
Liebe Grüße,
deine Wiebke
P.S. Immer noch so wütend? Dann lies mal hier:
Ich reg mich auf! Warum du Wut brauchst, um deine Berufung zu leben